Fragment #2

Eine besondere Eigenschaft des Menschen ist seine Fähigkeit, sich mit seiner Wahrnehmung zu identifizieren und sich als getrennt von ihr zu empfinden. Identifikation macht Wahrnehmung und Empfindung höchstpersönlich.

Ihrer Natur nach sind Wahrnehmung wie auch Empfindung momentane Eindrücke und Erscheinungen, die durch das Zentrale Nervensystem und Gehirn verarbeitet und interpretiert werden. Wahrnehmung ist beweglich und vergänglich. Identifikation damit schafft Anhaftung an diese Interpretation, sie schafft eine von anderem abgegrenzte Form. Das Gehirn kreiert dabei die Trennung von einem vermeintlich Wahrnehmenden (Subjekt/ich) und dem Wahrgenommenen (Objekt/du).
Dieser Wahrnehmende erscheint konstant und bekommt durch die Interpretation der Wahrnehmung eine Geschichte, einen Namen, wird zur „Person“, „Persönlichkeit“ – „ich“, in Form gegossen.

Ich bewege mich in Raum und Zeit, zwischen einem angenommenen Anfang – Geburt – und einem angenommenen Ende – Tod. Für diese Bewegung steht mir ein organischer Avatar – der Körper- zur Verfügung, mit feinen, hochentwickelten Sensoren, Systemen, Rezeptoren und Funktionen ausgestattet, die der Erfahrung, Wahrnehmung, Empfindung, Verarbeitung, Interpretation, Erinnerung und Projektion dienen. „Körper-Geist“ sind dabei keine Dualität, vielmehr durchdringen sie sich wechselseitig und sind responsiver Ausdruck voneinander.

Identifikation lässt mich tief in dieses Erlebnis „Mensch“ eintauchen. Im Raum erlebe ich Manifestation von Materie, die durch die Zeit bewegliche Form erhält, welche ich als „Ich“ oder als „Du“, mich oder das andere – getrennt von mir – wahrnehme.

Zu den Informationen, die bereits epigenetisch in den Zellen des Körpers stecken, kommen noch jene des Erlebens und Erinnerns hinzu und prägen das gesamte System. Durch Identifikation bin ich der Körper, bin ich Geschichte, bin ich Fiktion.

Die gegenwärtige Zivilisation, deren Besucher ich bin, basiert auf Trennung, Spaltung und Fragmentierung, sowie der Prägung durch das Trauma, das dadurch häufig entsteht. Daraus hat sich eine rastlose Kultur entwickelt, die ständig zwischen Angriff und Verteidigung, Suche, Flucht und Sucht oszilliert, hungrig und sehnsüchtig nach Bedürfnisbefriedigung und Erlösung.

Sie befindet sich in einer geistigen Matrix, hin- und hergerissen zwischen einer imaginären Vergangenheit, die sie entweder glorifiziert oder verdrängt, sowie einer Zukunft, die sie entweder fürchtet ob ihrer Unvorhersehbarkeit oder der imaginäre Ort ist, an dem alles besser sein wird, wenn ich nur alles richtig mache. Die Gegenwart wird häufig als ein Platz des Mangels wahrgenommen, der nach Verbesserung ruft.
Und so folgen sie diesem Ruf, angetrieben von diesem tief verwurzelten, unterbewussten Empfinden des Mangels, Generation um Generation weitergegeben.

Menschen sind wahre Schöpfer des Mangels, unzählige ihrer Erfindungen und Kreationen aus diesem Zustand heraus scheinen das Leben zu verbessern. Moderne ökonomische Systeme kreieren gar künstlichen Mangel, der als Treibstoff für Innovationsgeist gilt. Und doch ist der Schatten, den die Angst vor dem Mangel wirft, groß. Er sitzt wie ein Dämon im Nacken, ständige Angst erzeugend, des Erreichten, Geschaffenen wieder beraubt zu werden.

Mangel und Verbesserung sind moderne fundamentale Konzepte der Matrix der globalen menschlichen Zivilisation. Die Idee des Besseren wird dabei unterstützt von der Idee des „Mehr“. Es gibt nie genug, grenzenloses, gefräßiges Wachstum, der Fokus liegt auf der Zukunft.

Dabei wird die bereits vorhandene ressourcenreiche Fülle, die dem Leben ursprünglich alles zur Verfügung stellt häufig nicht mehr bemerkt. Im menschlichen kollektiven fragmentierten Bewusstsein ist die Evolution des Überlebens tief in die DNS hinein geschrieben. Dass Entwicklung auf der Basis des Gedeihens geschehen kann, ist ihnen häufig fremd. Zu groß ist die Angst vor dem Kontrollverlust, sich ohne Absicht dafür mit Vertrauen den Prozessen des Lebens zu übergeben, in die Hände einer Intelligenz, deren Unfassbarkeit für das menschliche Bewusstsein innerhalb seiner beschränkten Konditionierung ein großes Mysterium ist.

So ist der moderne Mensch Zeit seines Lebens damit beschäftigt, Verbesserungen für eine imaginäre Zukunft zu schaffen, währenddessen der Schatten des Mangels vorerst weiter wächst, und der Reichtum, der direkt vor seiner Tür liegt, weitgehend unentdeckt bleibt.

So bin ich nie genug, nie gut genug, habe nie genug, bin besessen davon, meine Absicht zu vervollkommnen, besser zu werden, weiter zu kommen, mehr zu besitzen. Meine Agenda ist bestimmt, meine Bestimmung Verpflichtung, deren Schatten, das Scheitern, das Versagen, bedrohlich über mir hängt und im unterbewussten Geist des Mangels die Matrix füttert, der ich zu entkommen versuche. Die ererbte, erlernte Identifikation wird unterbewusste Identität.