Es ist nicht so klar, wann alles angefangen hat, auch das „Wie“ gleicht mehr einer konzeptionellen Erinnerung. Irgendwann wurde ich geboren, und dieses „Ich“ entfaltete sich durch das, was mir reflektiert wurde, durch das, was auf und in mich projiziert wurde, von jenen, die zu meiner Projektion wurden. Ich bin das Resultat einer langen, teils schmerzhaften aber auch faszinierend-wundersamen Geschichte. Ich bin das manifestierte Unterbewusstsein von Familie und Ahnen. Ich bin all die unerfüllten Träume, Visionen und Wünsche, deren Saatgut tief in meine Zellen gepflanzt ist,. Ich bin die Dunkelheit des Nichtwissens, des kollektiven Un- und Unterbewussten, das weit bis in die Anfänge der Menschheit hineinreicht. Ich bin das daraus resultierende Trauma und Karma der Trennung, von Sehendem und Gesehenem, von Täter und Opfer, von Licht und Schatten, das sich hier und jetzt in Körper und Geist manifestiert hat und in all seiner Vielfalt den imaginären Anderen sucht und nach aussen projiziert. Ich bin geboren, um in grenzenlosen Raum und Zeit hinein zu sterben.
Die Reise, die Äonen lang erscheint und doch nur jetzt und hier stattfindet, ist gezeichnet von Präsenz. Präsenz ist ein Geschenk, ein Geschenk, das Lebendigkeit in allem entdeckt, was ist. Sie ist der einzig wahre und tiefe Grund, der alles zu tragen in der Lage ist, sie durchdringt Vergänglichkeit. Präsenz steht gleichgültig und gleichmütig allem Lebendigen gegenüber und nimmt alles an, was ist und wie es ist, blickt mit wachen Augen auf die vielfältige Dynamik des Lebens, des Werdens, der Vergehens und Sterbens.
„Ich sterbe“ – das mag im ersten Moment Unbehagen auslösen, Angst vor Auflösung, Entgrenzung und Kontrollverlust. Wenn das „Ich“ jedoch nicht mehr mit dem Körper identifiziert ist, bekommt das Sterben eine andere Bedeutung, und es wird zu einem Prozess der Befreiung. Wenn das „Ich“ stirbt, losgelöst vom Körperlichen, dann endet Fiktion – vom Gehirn wirklich konstruierte Geschichte, die aus der Perspektive der Trennung über mich erzählt, Geschichte, die mal geglaubt wurde, mal Widerstand erzeugt hat. Konstruierte Grenzen, die mich von der Welt des imaginären Anderen getrennt haben, ferngehalten haben. Welten, die nebeneinander isoliert voneinander zu existieren scheinen, und mal mehr, mal weniger Berührungspunkte besitzen.
Wenn sich die konditionierten Grenzen des Ich auflösen, erweitert sich der Raum ins schier Grenzenlose, und solange das Ich-Bewusstsein an diesem Prozess noch Anteil hat mag es mitunter heftigen Widerstand gegen seine Auflösung – das Ende seiner vertrauten Geschichten – zeigen, bishin zur Angst, den Verstand zu verlieren. Der Verstand ist die Quelle der Sprache, aus ihm heraus gebiert und gestaltet sich konzeptionelle Wirklichkeit. Manch tiefgreifende Erlebnisse überschreiten derart die Grenzen des intellektuellen Verstehens, dass einem im wahrsten Sinne die Worte für solches Beschreiben fehlen. Das Wunder ist wirklich nicht zu erfassen.
Was bleibt wenn sich die Konstruktion des „Ich“ auflöst?
Waches und präsentes Bewusstsein, das ungeteilte Lebendigkeit ist und in allem wahrnimmt und erkennt, das ist. Tausendfacher Ausdruck und Form, Farben und Schattierungen, von unfassbar schön bishin zu verstörend bizarr, ein schöpferisches Meisterwerk.
Dieses Dasein hat mir zwei Geburten geschenkt: einmal der unbewusste Anfang des Lebens, an den keine direkte, kognitive Erinnerung existiert, vom dem lediglich meine Eltern Zeugnis geben könnten. Und ein anderes Mal die Geburt ins Erwachen der Lebenskraft, die Geschichte ausgelöscht hat. Erinnerung, schwer-süss, bizarr-schön, skurril-wehmütig.
An diesem Punkt berühren sich Anfang und Ende, und werden zeitlos.